Predigt beim Versöhnungsgottesdienst (Ulrichsjahr) am 1.7.2023 im Dom von Bischof Dr. Bertram Meier

„Hört auf die Stimme des Herrn“

Das Gelingen eines Festes hängt von einer guten Vorbereitung ab. Das gilt ebenso für unser Ulrichsjubiläum. Zwei Jahre lang wurde das Jubiläumsjahr intensiv vorbereitet und organisiert. Ich bin überzeugt, wir sind gut gerüstet für das Festjahr. Wie steht es um unsere eigene geistliche Vorbereitung? Auch hierfür haben wir manches unternommen. Ich erinnere nur an die monatlichen Vorbereitungsgottesdienste in der St. Ulrichskirche in Seeg. Der heutige Umkehr- und Versöhnungsgottesdienst soll nochmals ein letztes Innehalten sein, bevor wir am kommenden Montag mit einer feierlichen Vesper das Ulrich-Doppeljubiläum eröffnen. Als Folie unserer Gewissenserforschung habe ich die Berufung des Propheten Samuel gewählt. Die Schriftstelle kann uns helfen, unser Gewissen zu prüfen, und uns ermutigen, unser Leben mit allen Licht- und Schattenseiten Gott hinzuhalten.

I. Ein pflichtvergessener Priester und ein ahnungsloser Knabe

„Mit dem Ohr des Herzens“ ist das Leitwort unseres Ulrichsjubiläums. Wenn ich auf das eben verkündete Schriftwort schaue, stelle ich fest: Die Fähigkeit zu hören, ist bei den dort handelnden Personen stark eingeschränkt. Nicht umsonst stellt die Schrift fest: „In jenen Tagen waren Worte des HERRN selten“ (1 Sam 3,1). Da ist der junge Samuel. Er ist Schüler des Priesters Eli und hilft diesem beim Tempeldienst im Heiligtum. Von Samuel heißt es: „Samuel kannte den HERRN noch nicht und das Wort des HERRN war ihm noch nicht offenbart worden“ (1 Sam 3,7). Samuel übt zwar den Tempeldienst aus, weiß zwar um die Rituale, doch den lebendigen Gott hat er noch nicht erfahren. Samuel kennt zwar den Kult wie ein junger Ministrant, aber Jahwe kennt er nicht. Dabei ist Samuel eigentlich die ganze Zeit nahe dran am Heiligen. Er lebt bei dem berühmten Priester Eli. Doch Eli ist verbittert. Seine beiden Söhne, Hofni und Pinhas, die wie ihr Vater als Priester im Tempel amtieren (vgl. 1 Sam 1,3), sind skrupellos und nichtsnutzig. Ihnen wird vorgeworfen, dass sie beim Schlachtopfer betrügen und mit Frauen vor dem Offenbarungszelt sexuell verkehren. Eli weiß um die Vergehen seiner Söhne, stellt sie gar zur Rede, jedoch ohne Erfolg. Eli ist umgeben von einer religiösen Elite, die ihre letzte Glaubwürdigkeit verspielt, weil sie nur auf ihren eigenen Vorteil bedacht ist. Eli weiß, die Menschen haben Gott vergessen, sich vom Heiligen abgewandt. Er selbst hat aber nicht mehr die Kraft zur Veränderung. Eli hat resigniert. Er tut seinen Dienst wie eh und je. Aber seine Augen sind schwach geworden, er kann nicht mehr sehen (vgl. 1 Sam 3,2). Seine Augen können die Zeichen der Gegenwart Gottes nicht mehr erkennen, seine Ohren den Ruf Gottes in seinem Leben nicht mehr hören, sein Herz ihn nicht mehr aufnehmen. Als Priester funktioniert er nur noch.

II. Samuel und Eli – eine Anfrage an uns, eine Anfrage an uns als Kirche

Der ahnungslose Knabe Samuel und der verbitterte, resignierte Priester, der nur noch funktioniert. Beide stellen unser Christsein auf den Prüfstand. Wie steht es um meine Gottesbeziehung? Habe ich eine Ahnung von Gott? Brennt in mir noch das lebendige Feuer der Sehnsucht nach ihm? Bin ich auf Grund gewisser Enttäuschungen in meinem Leben müde geworden in meinem Glauben? Eli und Samuel – sie sind auch eine Anfrage an uns, die Kirche von Augsburg. Sehen wir noch die Zeichen der Gegenwart Gottes und hören wir noch seinen Ruf, der an uns als Glaubensgemeinschaft immer neu ergeht? Haben wir die Kraft und den Mut, aufzustehen, wo der Name Gottes verunehrt, die Würde des Menschen mit den Füßen getreten und Leben zerstört wird? Ich 3 denke auch an die Unschuldigen, Kleinen und Schwachen, die ausgenützt und missbraucht werden? Wie steht es um Ehrfurcht und Respekt? Wie sehen unser Engagment als Kirche? Begnügen wir uns damit, den Betrieb am Laufen zu halten? Funktionieren wir nur noch? Glauben wir noch, dass Gott uns auch heute ruft und eine Botschaft für uns hat? Papst Franziskus erhebt warnend seine Stimme: „Wenn ein Volk, eine Gemeinschaft, ja: sagen wir auch eine christliche Gemeinschaft, eine Pfarrei, ein Bistum die Ohren verschließt und für das Wort des Herrn taub wird, werden andere Stimmen gesucht, andere Herren, und es endet bei den Götzen, bei den Götzen, die die Welt, die die Weltlichkeit, die Gesellschaft ihnen anbietet.“ Der Papst sorgt sich darum, dass wir zu „untreuen“, „heidnischen“ Katholiken werden könnten, noch schlimmer, zu „atheistischen Katholiken“, wenn wir keine Beziehung der Liebe zum lebendigen Gott haben.

III. Die Lampe Gottes ist noch nicht erloschen.

Der biblische Text könnte uns resignieren lassen, wenn da nicht dieser eine kleine Satz stehen würde: „Die Lampe Gottes war noch nicht erloschen“ (1 Sam 3,3). Die Lampe Gottes – sie ist mitten in der Nacht das Zeichen für Gottes Gegenwart. Nein, Gott hat sich nicht aus Silo verabschiedet. Gott schläft nicht, Gott schweigt nicht. Er spricht nur leise. Und leise fängt er immer wieder geduldig mit seiner Geschichte mit uns Menschen an. Mit einem Kind. Mit Samuel. So, wie er es öfters tut. Wie er mit dem Kind Mose etwas Neues angefangen hat. Und dann 1000 Jahre später mit dem Kind in der Krippe. Gottes Treue bleibt. Er lässt nicht von uns Menschen. So auch nicht von Samuel. Dreimal ruft Gott vergebens den Namen Samuel. Wie sollte der ahnungslose Knabe, den noch niemand in das Geheimnis Gottes eingeführt hat, die im Schlaf zu ihm sprechende Stimme als Stimme Gottes erkennen? Es braucht einen Dritten, der Samuel hilft, die Stimme zu deuten. Ausgerechnet dem Priester Eli, der wirklich kein Ruhmesblatt ist, kommt die Aufgabe zu, dem Jungen zu helfen. Gott macht den alten, verbitterten und resignierten Priester zu seinem Werkzeug. Gott schreibt eben auf krummen Zeilen gerade. Man muss Eli zugutehalten: Er weist den Jungen nicht ab, er gibt sich auch nicht selbst als Rufer aus. Obwohl er für sich selbst die Stimme Gottes nicht mehr vernehmen kann, weiß er den Ruf richtig zu deuten. Er kennt die Traditionen früherer Berufungen und weiht Samuel darin ein; er lehrt ihn, die Geister zu unterscheiden. Erst durch Eli versteht Samuel, dass Gott ihn ganz persönlich meint. Und – er bekommt von Eli den Rat, wie er sich verhalten soll: „Rede, denn dein Diener hört!“ (1 Sam 3,10), so soll er antworten. Der bisher ahnungslose Knabe entdeckt Gott. Er entdeckt, dass Gott nicht etwas von ihm will, sondern ihn ganz persönlich mit seiner ganzen Existenz. Samuel wird sein ganzes weiteres Leben aus dieser persönlichen Gottesbegegnung gestalten. Natürlich wird auch er Höhen und Tiefen, Zeiten überschwänglicher Freude und Zeiten tiefer Anfechtung erleben. Aber was er hier erfahren hat, lässt ihn nicht mehr los. Von nun an wird er ein Hörender bleiben.

IV. Das Ulrichsjahr – eine Zeit, den Ruf Gottes zu vernehmen und zu deuten.

Ich bin überzeugt, dass Gott jedem von uns, aber auch uns als Gemeinschaft der Glaubenden in diesem Jubiläumsjahr, aber auch durch das Ulrichsjubiläum ansprechen will. Das Jubiläum lädt uns ein, wieder neu auf die Stimme Gottes zu hören. Jeder von uns kann in diesem Jahr Samuel und Eli sein. Ich bin Samuel: Gott spricht mich ganz persönlich an. Er ruft mich durch die Stimme meines Gewissens, er spricht mich an durch das Wort der Heiligen Schrift, durch das Lehramt der Kirche, durch prophetische Menschen, durch die Gemeinschaft der Glaubenden, durch den Hilferuf von notleidenden Menschen. Bin ich bereit, seine Stimme in der Tiefe meines Wesens zu hören? Nicht immer werde ich seinen Ruf sofort vernehmen. Aber die Samuel-Geschichte macht mir Mut: Gott gibt nicht auf, er ist beharrlich und treu. Er wird immer wieder in mein Leben hineinsprechen. Dankbar bin ich für einen Eli, der mir hilft, Gottes Stimme zu deuten. Wer könnte Eli für mich sein? Ich bin auch Eli: Ich weiß, ich bin selbst nicht immer im Glauben stark. Mein Leben ist auch nicht heil. Und dennoch kann ich mit meinem schwachen Glauben und meinen religiösen Erfahrungen Werkzeug Gottes für andere sein. Ich darf bescheiden andere zum Hören auf Gott ermutigen. Bin ich dazu bereit? 

Nicht nur jede und jeder einzelne von uns ist Samuel und Eli. Auch zusammen sind wir als Pfarrgemeinde, als Ordensgemeinschaft, als geistliche Gemeinschaft, als Bistum Samuel und Eli zugleich. Wir tragen das Samuel-Gen bereits in unserem Namen: Kirche heißt auf Griechisch „ekklesia“, die Herausgerufenen. Gott ruft uns immer wieder als sein Volk, so wie wir es in einem Lied besingen: „Gott ruft sein Volk zusammen“ (GL 477). Können wir trotz allem, was uns in diesen Monaten in der Kirche herausfordert und umtreibt, offen sein für den Ruf Gottes? Sind wir bereit, uns auf den Willen Gottes einzulassen, der in seinem Wort an uns ergeht? Wird sein Wort uns in Bewegung bringen? Gott ruft seine Kirche auf verschiedene Weise: durch sein Wort, durch das Lehramt, durch die Zeichen der Zeit. Aber er hat uns vielleicht auch etwas zu sagen durch Menschen, die außerhalb der Kirche stehen. Hören wir ihn rufen in den Klagen, Schreien und dem schmerzvollen Wimmern der Kranken und Sterbenden, der Flüchtenden, der Armen und der missbrauchten Menschen? Wir sollten Geduld mit Gott und mit uns haben: Nicht immer werden wir seinen Ruf sofort und in rechter Weise hören. Aber vertrauen wir darauf, er lässt nicht von uns. Wir sind als Glaubensgemeinschaft ebenso Eli. Das Zweite Vatikanische Konzil spricht gleich im ersten Abschnitt der dogmatischen Konstitution über die Kirche davon, dass wir, die Kirche, „Werkzeug“ Christi sind (LG 1). Es darf deshalb uns als Kirche nicht um uns gehen. Wir dürfen als Gemeinschaft nicht nur um uns selbst kreisen. Unsere Aufgabe ist es, wie Eli Menschen zu helfen, dass sie die Zeichen der Gegenwart Gottes in ihrem Leben sehen und seinen Ruf in ihrem Leben vernehmen. Darum geht es. Sind wir bereit, aus unserer Betriebsamkeit auszusteigen? Bedenken wir, dass wir mit unserer Dauerklage über den Zustand der Kirche uns in unserem seelsorglichen Handeln blockieren und uns die Kraft rauben, für Menschen da zu sein. Machen wir uns immer wieder klar, nicht wir rufen die Menschen, sondern Gott ist es, der ruft. Wir sind nur sein Werkzeug. 

„Die Lampe Gottes ist noch nicht erloschen!“ Das macht Mut. Gott wird auch uns im Jubiläumsjahr beim Namen rufen. Hören wir seinen Ruf und helfen wir einander, seinen Ruf zu deuten. „Herr, gib uns Mut zum Hören, auf das, was du uns sagst. Wir danken dir, dass du es mit uns wagst.“ (GL 448)